„Es geht insbesondere um Persönlichkeitsbildung“

Philipp

Winterschwimmfest beim TV Wetzlar

„Es geht insbesondere um Persönlichkeitsbildung“

Ein Interview mit Trainer Philipp Wolge

Philipp, vergangenes Wochenende warst du mit deiner Mannschaft im hessischen Wetzlar auf einem Schwimmwettkampf. Wie bewertest du das Abschneiden der Schwimmer?

Ich bin größtenteils sehr zufrieden mit den Leistungen meiner Schwimmerinnen und Schwimmer. Betreibt man reines Zahlenspiel, müsste ich mit etwa 55 % neuer persönlicher Bestleistungen eher etwas unzufrieden sein. Es wird natürlich auch meine Aufgabe sein, die Vorbereitung und das einzelne Abschneiden jedes Athleten genau zu analysieren und gegebenenfalls zu optimieren. In eine Wettkampfanalyse sollte jedoch nie ausschließlich reine Statistik einfließen. Insbesondere im schwimmtechnischen und –taktischen, aber auch im Bereich der Teambildung haben wir mit dem vergangenen Wochenende einen großen Schritt nach vorne gemacht.

Wie genau meinst du das?

Das Wochenende bestand nicht ausschließlich aus Einschwimmen, Wettkämpfen und Ausschwimmen. Da Wetzlar nicht gerade um die Ecke ist, habe ich uns zwei Übernachtungen in der Jugendherberge gebucht. Die Eltern haben uns Freitagmittag nach Wetzlar gefahren und erst Sonntag wieder abgeholt. Freitagabend haben beispielsweise ein paar schöne Stunden in der Wetzlarer Altstadt verbracht, auf dem Weihnachtsmarkt Kinderpunsch getrunken und Nutella Crêpes gegessen. Samstagabend blieben wir zwar in der Jugendherberge, haben hier aber Poolbillard und Flipper gespielt. Mittags gab es jeweils ein gemeinsames Essen. Kurz zusammengefasst: Wir haben das gesamte Wochenende mehr als viel Zeit miteinander verbracht und wirklich viel gelacht.

 

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Man kann sich vorstellen, dass gerade im Schwimmtraining die Gemeinschaft und der Spaß manchmal auf der Strecke bleiben müssen. Umso schöner mit einem solchen Wochenende ein wenig Abwechslung reinzubringen, oder?

Das würde ich so nicht unterschreiben. Auch wenn Schwimmen per Definition keine Mannschaftssportart ist, lässt es sich zurecht als Gemeinschaftssportart bezeichnen. Es ist grundsätzlich auch nicht so, dass sich Spaß und Leistung gegenseitig ausschließen. Ich würde sogar soweit gehen und behaupten, dass das eine ohne das andere nicht möglich wäre. Der Moment, in dem man beispielsweise eine neue Bewegung das erste Mal erfolgreich ausgeführt hat, löst doch nur dann wirkliche Glücksgefühle aus, wenn ich weiß, was ich dafür investieren musste. Aufgrund meiner eigenen (Willens-)Leistung bin ich nun in der Lage, Delfinschwimmen zu können (oder 100 Kraul unter 1:10 Minuten zu schwimmen; oder oder oder). Fällt mir alles in den Schoß, ohne dass ich mich bemühen muss, wird es früher oder später langweilig und ich schmeiße vermutlich hin. Umgekehrt müssen wir Trainer natürlich dafür sorgen, dass das wöchentliche Training möglichst spaßvoll gestaltet wird. Gelingt uns das, kommt die persönliche Leistungsentwicklung von alleine.

Du hast auch technische und taktische Fortschritte erwähnt. Gehen diese immer mit neuen persönlichen Bestleistungen einher?

Leider nicht. Seline ist hier ein „schönes“ Beispiel. Im technischen Bereich hat sie im letzten halben Jahr tolle Fortschritte gemacht. Und das über alle 4 Schwimmarten, im Wenden- und Startbereich. Allerdings sind die Technikumstellungen noch nicht vollständig automatisiert. Wenn ich ihr dann noch eine taktische Anweisung im Wettkampf gebe (z.B. mit einer hohen Frequenz zu schwimmen), ist sie ein wenig gehemmt. Man könnte sagen, dass sie einige Leistungsprozente dafür aufbringen muss, technisch und taktisch korrekt zu schwimmen. In einer automatisierten Bewegung hätte sie diese Leistungsprozente zur Verfügung, um sie in Schnelligkeit – und damit in eine neue persönliche Bestzeit – umzusetzen. Wichtiger – langfristig betrachtet – ist jedoch, dass sie mit einer sauberen Technik und sinnvollen Taktik schwimmen kann. Somit muss man manchmal einen Schritt zurückgehen, um anschließend zwei nach vorne zu machen.

Wie im wahren Leben.

Eben. Das ist mein oberstes Gebot. Unterstütze die Kinder und Jugendlichen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung.

Vielleicht ein etwas hoch gegriffenes Ziel?

Mir ist bewusst, dass ich „nur“ der Schwimmtrainer bin. Mit vielen meiner Schwimmerinnen und Schwimmer verbringe ich jedoch zwischen 8 und 12 Stunden jede Woche – von Trainingslagern oder Wettkampfwochenenden mal ganz abgesehen. Das ist mehr als jeder Lehrer. Vielleicht sogar mehr als manche mit einem Elternteil. Es wäre falsch, wenn ich mir dabei keine Gedanken darüber machen würde wie ich auf die Kinder wirke, welches Vorbild ich abgebe. Man kann also schon behaupten, dass ich einen Erziehungsauftrag habe. Zumindest sehe ich das so. Ich versuche also, den Leistungssport mit all seinen positiven und manchmal auch negativen Momenten zu nutzen, um an ihm zu „wachsen“. Genau genommen gibt es keine Situation, aus welcher man nichts lernen kann. Meine Aufgabe ist, diese Situationen bewusst zu machen und für sich selbst zu nutzen.

Kannst du das an einem Beispiel konkret machen?

Nehmen wir wieder den Wettkampf in Wetzlar. Alina und Sofia haben in den vergangenen Wochen/Monaten schwer mit körperlichen Problemen zu kämpfen gehabt. Alina brach sich den Fuß und musste 4 Wochen komplett pausieren und danach langsam wieder aufbauen. Das obwohl sie zum damaligen Zeitpunkt sehr gut trainiert und super Zeiten ins Wasser gebracht hat. Sofia kämpft seit fast einem halben Jahr mit Rückenproblemen. Noch schlimmer hat es Patricia erwischt: seit etwa 3 Jahren hat sie mit Knie- und Fußbeschwerden zu tun. Gemeinsam haben wir beratschlagen, wie wir das angehen, um „aus diesem Loch“ wieder rauszukommen. Am Wochenende sind Alina und Sofia mindestens eine neue Bestzeit geschwommen. Patricia lag sogar bei fast 100 % persönlichen Bestleistungen. Ich möchte nun, dass alle mit dem Gefühl nach Hause fahren: „Hey, ich bin über die und die Strecke eine neue Bestzeit geschwommen. Noch vor ein paar Wochen hätte ich damit niemals gerechnet.“ Oder: „Hey, ich konnte die 50 Brust ohne große Schmerzen schwimmen. Und dann auch noch in Bestzeit.“ Das sind positiv formulierte Sätze und wirken sich auf die Motivation und die mentale Stärke anders aus als ein negativ formulierter Satz („Über 3 Strecken sind keine Bestzeiten rausgesprungen. Schade.“ Oder: „Ich hatte wieder bisschen Schmerzen beim Brustschwimmen.“). Dass eine solche Herangehensweise funktioniert, erfahren meine Schwimmer durch die Situation selbst. Und was ist nun das Exemplarische an diesem Beispiel?

Dass das wahre Leben genauso spielt?

Richtig. Ob im Privatleben oder im Beruf. Es ist immer ein Auf und Ab. Wir müssen jedoch lernen damit umzugehen. Weniger schöne Momente braucht es, alleine schon um die schönen zu erkennen. Hat man aber gelernt (z.B. anhand des Leistungssports), aus den weniger schönen Situationen selbst wieder „herauszukommen“, erhöht sich die Lebensqualität. Für mein Verständnis haben Alina, Sofia und Patricia durch diese „Krise“ ihre Persönlichkeit positiv weiterentwickelt. Und so gibt viele andere Beispiele, wie man anhand bestimmter Situationen lernen und sich weiterentwickeln kann. Mein Leitbild ist, meine Schwimmer zu immer mehr Selbstständigkeit und Selbstverantwortung aufzufordern.

Kommen wir noch einmal auf die Wettkampfergebnisse zurück. Gab es hier außergewöhnliche Leistungen, die du gerne hervorheben möchtest?

Grundsätzlich bin ich überhaupt kein Fan von reinen Darstellungen der Ergebnisliste. Als Trainer ist mir völlig egal, ob mein Schwimmer Platz 1 oder 10 belegt, solange eine Weiterentwicklung im technischen, taktischen oder persönlichen Bereich da ist. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich mich nicht sehr über Podestplatzierungen freue. Dabei freue ich mich über die beiden Goldmedaillen durch Nils und Alina aber mindestens genauso wie über die 100 Meter Schmetterling von Lea, die sich nicht nur über 5 Sekunden verbessern konnte, sondern auch das erste Mal ohne „Hemmungen“ an diese Strecke ranging. Lea hat es auch geschafft über jede einzelne Strecke eine neue persönliche Bestleistung zu schwimmen. Was soll man mehr erwarten als Trainer. Florian konnte sich über 200 Freistil über 8 Sekunden verbessern und hat die abgesprochene Taktik perfekt umgesetzt. Es ist eine Augenweide, ihm insbesondere auf den letzten 50 Metern zuzuschauen, wenn er „den Turbo zündet“. Da schlägt das Trainerherz definitiv höher.

Wie geht es nun nach dem Wettkampf weiter?

Genau kann ich das noch nicht sagen. Über Weihnachten werden wir einige freie Tage haben. Ein paar wenige Trainingseinheiten wird es in der Ferienzeit aber dennoch geben. Hier steht vor allem die Optimierung im technischen Bereich im Vordergrund. Mithilfe von Videoaufnahmen sollen sich meine Schwimmer selbst analysieren und so weitere Fortschritte machen. Wie genau der Wettkampfplan für 2015 aussieht, muss ich noch sehen.

Vielen Dank für das Gespräch.